Neue Sicht durch altes Glas
Dieses Foto von dem Kirchturm unserer St.-Stephanskirche in Vlotho sieht recht unspektakulär aus. Scharf, detailreich und in Farbe und Schattierung nahezu perfekt. Wer hätte gedacht, dass das verwendete Objektiv bereits 50 Jahre alt ist.
Für Leica-Fans mag das nichts aussergewöhnliches sein. Doch auch andere Hersteller kannten sich damals schon ziemlich gut mit ihren Gläsern aus.
Woher das Interesse? Mit den Augen unseres Vaters
Dieser aus dem englischen kommende Spruch „my fathers eyes“ – bekannt u.a. durch den Song von Eric Clapton hat in der Fotografie mit altem Material etwas ganz besonderes für mich.
Wie viele Familienväter kam auch unser auf die gute Idee, das Heranwachsen der Kinder und die gemeinsame Lebensgeschichte mit einer guten Kamera festzuhalten. Seine „alte“ Kodak Retina 1b Sucherkamera ersetzte er durch eine Spiegelreflex-Kamera. Ich weiss nicht genau, in welchem Jahr, aber da die Retina Reflex III zwischen 1960 und 1964 hergestellt wurde, lässt es sich ziemlich genau eingrenzen. Über Fünfzig Jahre ist es her…
Mein Bruder und ich verbinden viele Kindheitserinnerungen mit den Bildern, die er von unserem Leben festhielt. Die alte Kamera in der Hand zu halten, das alte Objektiv wieder zu benutzen, das lässt uns als Kinder ein ganzes Stück in die Vergangenheit eintauchen.
Ob es das gemeinsame Spiel im Garten oder die Ferien an Nord- und Ostsee sind. Fotos aus vergangener erlebter Zeit geben uns ein Gefühl dafür.
Und vielen Dank noch einmal an meinen Bruder und meinen Cousin! Ihr habt mir beim Erklettern des Baumes riesig geholfen und glücklich gemacht. Ihr wart einfach großartig!
Wie weckt man ein altes System wieder auf
Das Analog-Fieber packt ja viele Menschen. Also warum nicht einfach eine Rolle Film einlegen und los? Leider sind im Inneren, wie bei so vielen alten Kameras, Teile der Schmierstoffe an den mechanischen Bauteilen verharzt. In diesem Fall funktioniert die Auslösemechanik zwar noch, doch die Zeitverzögerung lässt erahnen, dass alles etwas länger dauert – und eben auch länger belichtet wird.
Man müsste jetzt also eine Werkstatt finden, die das gute Stück demontiert, reinigt und neu einfettet. Nach Jahrzehnten mit analoger Filmtechnik aufgewachsen sehe ich immer wieder Gründe, warum ich das digitale bevorzuge.
Es gibt Adapter für alles
Es gibt einen zweiten, wenn auch nicht so vollständigen Weg: Einen Adapter, der den eigenen Kamera-Body mit den alten Objektiven verbinden kann.
Scheinbar passt auf jeden Topf ein Deckel bzw. findet man einen Adapter für die unwahrscheinlichsten Kombinationen. Meine Variante ist nämlich eine davon. Das Kodak Retina Reflex-System wurde nur 1957 bis 1966 vertrieben und so gibt es von Schneider-Kreuznach 50 Jahre später nicht mehr so viele Objektive davon. Gleichzeitig ist das Fuji-X-Bajonett vom Body noch nicht so marktdominierend wie Canon oder Nikon.
Als ich nach dieser Variante im Netz schaute, fand ich in ganz Europa nur einen einzigen vorrätig, nämlich im Amazon-Lager in England.
Durch die eigenwillige Farbkombi wird das Gespann von Kamera, Adapter und Linse nicht zu einem Schmuckstück. So ein aquamarinfarbener Ring zerstört neben der Länge des Konverters jegliches Image von Retrolook. Stil hat das nicht – schade.
Allerdings geht es mir doch eher um die technische Verbindung dieser beiden Dinge aus unterschiedlichen Jahrhunderten.
Zurück zur Langsamkeit
Ein paar Fotos zum Appetit holen. Vielleicht grabt Ihr selber mal im eigenen Schrank nach Linsen. Oder ihr haltet auf dem Flohmarkt Ausschau nach etwas passendem.
Was mir besonders auffiel, war die Rückbesinnung auf die alten Tugenden, Entfernung und Blende vorn am Objektiv per Hand einzustellen. Erst offenblendig die Entfernung justieren und dann nach eigenem Gusto abzublenden.
Idee: Man rät Menschen, die von point-and-shoot-Varianten zur Fotografie wechseln möchten, mit einer Festbrennweite anzufangen. Vielleicht wäre es noch besser, ein Altglas zu nehmen, das keine elektronische Kopplung zum Body besitzt. Dann kann man das Einstellen des Objektives noch besser nachvollziehen.
Überrascht hat mich die Farbintensität der Bilder. Alle hier gezeigten wurden in Lightroom mit dem Provia-Standard exportiert. Mit dem verblichenen Retro-Gesamteindruck manch alter Diapositive hat das hier nichts gemeinsam. Es ist halt nicht dassselbe. Dazu müsste man einen Film analog belichten – und 30-40 Jahre liegen lassen.
Interessant ist der Crop-Faktor. Der Bildausschnitt verringert sich durch die im Vergleich zum Kleinbildfilm kleinere Sensorgröße – bei Fuji-X um das 1,5-fache. Das hat so manche Auswirkung. Da die (tendenziell) etwas schwächeren Randbereiche des Objektives nicht mehr den Sensor belichten, kommt es nicht zu den negativen Vigniettierungen, geringeren chromatischen Abberationen (=Farbverschiebungen durch unterschiedliche Lichtbrechung) und Randunschärfen. Hat was!
Ausserdem wird so aus dem alten 135mm-Objektiv eines mit 200mm-Brennweite:
Alte Orte mit altem Objetiv wieder besucht
Im Restaurant des Hotel Lütke in Vlotho fanden zu meiner Kindheit und Jugend viele Familienfeste statt. Taufen, Konfirmationen und Geburtstage. Ich erinner mich noch an damals so aussergewöhnliche Nachspeisen wie Erdbeeren mit milden grünen Pfefferkörnern. Unser Vater fotografierte in diesen Räumen häufiger. Mich macht es etwas nachdenklich, wenn ich eine Kamera mit einem der Original-Objektive auf die Überreste dieser Speiselokal-Legende halte und auslöse.
Gerne hätte ich alte Fotos, Personen von früher, alte Orte originalgetreu in der „Jetzt-zeit“ nachgestellt. Hier kommt aber – neben der Arbeit – der Cropfaktor ins Spiel. Mit derselben Linse kann man ohne einen Vollformatsensor nur einen Teilbereich des ursprünglichen Bildes ablichten. Also „mogeln“? Größerer Abstand oder einfach ein anderes Objektiv aus der Sammlung? Nein.
Liebhaberei
Es macht riesig Spaß, die alten Objektive in der Hand zu halten und an den Einstellungen zu drehen. Das ist etwas besonderes. Doch wie sieht es mit der Bildausbeute aus? Was macht den „alten“ Look aus? Meine These: der analoge, gealterte Film ist das Entscheidende. Sicher sind auch ein paar Prozent des alten Objektives beim Resultat im Spiel. Es erscheint mir aber eher vernachlässigenswert.
Beim folgendem Bild habe ich mal eine „Standard-„Provia-Emulation mit einer des Kodak Tri-X gegenüber gestellt. Auf die Frage „welches Foto wurde denn mit dem alten Objektiv geschossen“ würden die meisten Betrachter auf das sw-Foto tippen. In der Realität waren es aber beide.
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Also geniesse ich lieber das Drehen an den Objektivrädchen, die frischen Farben und die schönen Motive!
3 Gedanken zu “Altglas trifft Sensor”
Wirklich immer wieder erstaunlich, was die ALTEN LINSEN für eine Qualität bringen. Ich mag aber auch den Charme den sie durch ihre „Fehler“ haben, die heutigen Objektiven wegkonstruiert wurde. Am Crop eh gut, weil nur der wirklich gute Teil des Objektivs zum Einsatz kommt – da wo Objektive eher schwächeln – der Rand -fällt weg. Und bei den Spiegellosen auch viel besser, weil das Auflagemaß halt gute Möglichkeiten gibt Objektive zu adaptieren. Bei Spiegelreflex muss man da schon suchen, bis man ein Objektiv mit einem Auflagemaß gefunden hat, was auch noch einen Adapter zulässt. Dafür muss ich sagen, dass der Charme des Objektiv in den Randbereichen noch intensiver ist und ich darauf nicht verzichten möchte. Wenn es um Klarheit und Schärfe geht ist es so natürlich genial! Ich liebe auch die Gemütlichkeit, die Entschleunigung, die durch das Manuelle entsteht.
Die Bilder sind wirklich erstaunlich gut. Habe selber ein Mittelformat Biotar, was zu VF genau den gleichen Effekt bringt, wie VF zu Crop – die Randbereiche fallen weg. Ich habe kein neueres Objektiv was so fein auflöst. Das ist wirklich erstaunlich.
Weiterhin viel Spaß mit den alten Linsen!
Lieber Jürgen,
jetzt hat dich der „Retro-Virus“ auch erwischt! Willkommen im Club…
Du hast tolle Detailaufnahmen von „unserem“ Vlotho gemacht! (Steve Huff mit seinen dämlichen Hinterhof-Fotos sollte sich was schämen!)
Und die Kodak Retina Reflex? Es juckt mich ungeheuer, die zum CLA (= clean, lubricate, adjust) zu schicken! Da reden wir noch mal drüber…
Liebe Grüße,
Claus
Hallo Claus,
bin wohl zu ungeduldig, auf die Entwicklung von Filmen zu warten. Habe Respekt vor Leuten, die das können.
Nach Jahrzehnten analoger Bilder bin ich aktuell recht zufrieden mit neuen Medien. Dabei sollten wir mal in Ruhe folgendes ausdiskutieren: Wird ein ausbelichtetes Digitalfoto nicht dann auch „analog“? Ist ein analoger Film mit der Absicht des anschließenden Digitalisierens nicht sowieso digital?
…sind wahrscheinlich nur „Schutzfragen“ eines zu-faul-für-Analog-Fotografen…
Grüße
Jürgen