Ein komischer Titel, aber vielleicht geht oder ging es euch ähnlich wie uns.
Auf dem Weg zur polnischen Ostsee lag die Stadt auf dem Weg. Lohnt es sich, dort anzuhalten?
Innenstadt von Stettin
Vielleicht gibt ein kurzer Blick über die Kern-„Altstadt“ die schnellste Info darüber. Stettin wurde 1944 in Schutt und Asche gelegt. 90% wurden zerstört, kann man lesen. 90% hört man ja fast bei jeder Stadt. Wie wäre es mit fast 100%? Das war wahrscheinlich selbst für die damaligen verrohten Zeiten etwas zu unfassbar. Kommt aber meinem Gesamteindruck viel näher.
Angesichts der geringen Überbleibsel der langen und lebendigen Geschichte Stettins wäre eine Angabe nahe 100% sicher angemessener gewesen. Von einer Innenstadt, wie wir sie von vielen Städten kennen, ist in Stettin nichts zu spüren. Eine Straßenplanung der wilden 1960er-Autojahre und einzelne einfache Häuserblöcke in dieser Zeit planierten den Rest.
Doch überrascht es etwas, dass auch heute, über 75 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg noch große Brachflächen im Zentrum zu finden sind. Es scheint so, als hätte Stettin beim Wiederaufbau trotz der vielen fleissigen und geschickten Neubürger mit anderen Städten nicht richtig mithalten können.
Wenn ich das richtig gesehen habe, hat Stettin durch seine Binnenlage und den begrenzten Zugang durch die Westoder den Anschluss an die Containerschifffahrt verloren. Jeder kennt ja eine ähnliche Problematik von Hamburg, wo die immer größer werdenden Pötte eine Elbvertiefung erfordern. Innerhalb Polens haben da Häfen wie Danzig bessere Vorraussetzungen. Vielleicht fehlen deshalb jetzt etwas die finanziellen Mittel für eine Neuausrichtung.
Wer also auf einem kurzen Halt historisches besichtigen will, wer eine kleine lauschige Altstadt erwartet, der sei hier vorgewarnt. Das Fremdenverkehrsamt gibt sich viel Mühe und bietet einen Rundweg durch die Stadt an, der für ein kurzes Verweilen ganz nett ist.
Richtig interessant wird es hier vermutlich – wie in vielen anderen Städten – erst, wenn man sich längere Zeit für Kontakte nimmt und tiefer in das soziale und kulturelle Netzwerk kommt. Einen kurzweiliger Gang durch alte, historische Gassen, eine Spur mittelalterlichen Flairs? Leider Fehlanzeige.
Deshalb möchte ich euch zu viele Fotos aus der Innenstadt ersparen. Fotografisch gibt es sicher viele schöne Perspektiven und wie wir ja gelernt haben: die Kunst der Fotografie liegt in ihrer Limitierung!
„Die Kunst der Limitierung“ spornte mich in Stettin aber nicht an. Ein wenig resigniert habe ich noch nicht einmal das Objektiv oft gewechsel. Aber wozu auch, denn dass XF18mm ist ja vielseitig genug.
Der Hafen
Der Weg zwischen Campingplatz und Innenstadt führte uns direkt am Hafengelände vorbei. In der Summe wirkte es so, dass hier die besseren, interessanteren Motive zu finden waren. Besonders diese Mischung aus alt und neu gab immer wieder eine gute Zusammenstellung.
Die oft gehörte Nachfrage
Ich möchte hier keine alten Klischees bedienen. Denn auch durch deren Verneinung setzt man ja noch einen Rest im Kopf fest…
Aber: die „wilden“ Jahre sind lange vorbei. Ein Bekannter wärmte vor unserem Urlaub den alten Spruch „fahr nach Polen – dein Auto ist auch schon da“ auf. Irgendwie bin ich im Nachhinein noch etwas „sauer“, dass sich diese Vorurteile so hartnäckig halten. Sollte vielleicht einfach mal selber hinfahren.
Auch nach unserem Urlaub war die Frage nach der Sicherheit immer wieder Thema. Aber sehen wir es positiv: durch das Nachfragen zeigt der Gesprächspartner ja seinen Wunsch nach realistischer aktuellen Einschätzung. Und Neugier und Wille zur Veränderung ist ja etwas gutes.
Ich denke, dass dein Fahrrad am Kölner Hauptbahnhof schneller geklaut wird als in Danzig. So sind alle Großstädte. Und ausserhalb solcher Hotspots ist zum Beispiel das Zelten an einem Posener See genauso behaglich und sicher wie an einem ostwestfälischen Baggerteich. Also: vergesst diesen Absatz schnell wieder!
Camping am See
Falls ihr mit Zelt oder Wohnmobil unterwegs seid, dann gibt es vielleicht noch einen anderen Grund, in Stettin eine kurze Rast einzulegen: der Camping Marina Szczecin.
Die Ausstattung ist zwar nicht üppig, ein typischer städtischer Platz. Doch er liegt direkt an einem See und die Innenstadt ist von dort aus bequem per Bus oder mit dem eigenen Fahrrad erreichbar.
Tja, wenn ihr in diesem Artikel einen richtigen Reiseführer erwartet habt, dann muss ich euch leider enttäuschen. Aber da gibt es genug von und einige davon sogar von ortskundigen, kompetenten Leuten. Ich hoffe aber, dass ihr mit Hilfe von ein paar Bildern einen kleinen Eindruck gewinnen konntet.
Nach einem schönen Sonnenuntergang am Jachthafen geht unsere Reise noch ein Stück weiter Richtung Osten.
4 Gedanken zu “Stettin – eine Ansichtssache”
Lieber Jürgen,
ein ziemlich inspirierender Artikel und tolle Perspektiven. In diesem Fall mag die die Farbaufnahmen mehr. Irgendwie sind mir die SW-Aufnahmen eine Spur zu clean. Ich vermisse da die gute alte Körnung, die auch gut zum Ambiente passen würde. Aber ganz persönlicher Geschmack.
Was die Sicherheit anbetrifft, ich war früher beruflich öfter in Osteuropa und hatte immer die Devise, die Menschen hier würden auch überleben. Polen und das Baltikum werden oft völlig unterschätzt.
Lieber Gruß
Kai
Hallo Kai,
Deine Leidenschaft fürs Analoge hat Dich schon zum Fachmann gemacht. Die sw-Fotos in diesem Artikel sind leider nichts für Feinschmecker wie Dich und statt körnig nur ein wenig rauschend. Kann verstehen, dass Dir da etwas das Salz in der Suppe fehlt. Ich war einfach froh, nur einen Body mit ein paar Linsen zu tragen. Keine Entscheidung treffen müssen, ob ich das nächste Motiv digital oder analog ablichten sollte.
Freue mich schon drauf, Deine Bilder vom Norden zu sehen.
Jürgen
Die Seite in ihrer Reduziertheit ein Genuss vom feinsten. Eine Stadt, die so recht keine werden will, glänzend ins Bild gesetzt. Kein Geschwafel sondern ein paar essentielle Überlegungen – findet man nicht oft.
Stettin ist für einen Besuch eine Herausforderung und für den, der nichts sucht, sondern nur geboten bekommen möchte vermutlich ein Reinfall. Doch das scheint mir doch Stettin erst interessant zu machen. Man muss sich mal Mühe geben, Eindrücke zu gewinnen und die dann auch noch festhalten zu können. Überwältigt von Eindrücken. Das kann jeder. Und für mich ist oft auch schon langweilig. Umsomehr freue ich mich über diese Seite.
Ich denke, sie haben sehr viel mit ihren Bildern aus der Stadt „herausgeholt“. Gefällt mir wirklich sehr gut. Schreibe eigentlich keine Kommentare, aber von Ihrer Seite bin ich sehr angestan.
Mein Glückwunsch dazu.
Danke!
Bei mir kommen beim Lesen dieses Blog-Beitrags die Erinnerungen an im 2. Weltkrieg fast vollständig zerstörte Orte hoch. Ich denke da auch besonders an Danzig. Gerade jetzt, wo wir wieder mit der Zerstörung und Ausradierung von Städten und ihren Kulturen konfrontiert werden, wird mir wieder klar, wie viel dadurch verloren geht. Und wie lange ein „Wiederaufbau (?)“ braucht… und stets unvollständig bleiben wird.