Warum sieht das denn keiner?

„Fridays for future“ – und ein GANZ anderer Denkansatz dazu.

Was uns heute antreibt

Draussen wird demonstriert – und Fujifilm stellt zeitgleich seine „ganz neuen“ Kameramodelle vor. Ich möchte diesen Blog nicht politisieren und nur ungern die reine Foto-Thematik verlassen. Mir fehlt aber die Aufmerksamkeit für die vielleicht wirkliche Schlüsselbranche unserer Probleme.

Und das positive daran: es gibt mindestens einen Ausweg!

Testfragen zur Einstimmung

  • Wann habt ihr das letzte Mal Werbung gesehen? Vor 2 Sekunden, vor 10 Sekunden?
  • Welche Branche ist in den letzten Jahrzehnten ungehemmt und grandios gewachsen?
  • Womit verdienen Konzerne wie Google oder Facebook ihre Milliarden?
  • Warum werden so unendlich viele Daten von jedem einzelnen gesammelt?
Anmerkung zu Punkt 1: Habt ihr die Frage richtig beantwortet? Es waren weniger als 2 Sekunden, denn das obere Bild zeigt zwei polnische Werbeplakate für Rossmann etc. .

Die ungebändigte Kraft der Werbeindustrie

In den letzten Jahrzehnten ist die Werbebranche wohl einer der profitabelsten und wachstumsstärksten Wirtschaftszweige – weltweit. Das finde ich einfach irre. Vier Aspekte möchte ich wegen ihrer Relevanz herausgreifen:

Stumpfe Werbung gibt es nicht mehr. Die Psychologie hat mit ihren Forschungen einen großen Wissensschub geleistet, um Konsumenten möglichst perfekt zu erreichen und Produkte zu vermarkten.

Wissen ist Macht. Was wären Erkenntnisse zu Kaufentscheidungen wert, wenn nicht die großen Datenmengen und eine mögliche Individualisierung der Zielgruppen möglich wäre.

Werbung umgibt uns permanent. Früher sah man vielleicht abends im öffentlich-rechtlichen Fernsehen vor der Tagesschau ein paar Werbeeinspielungen. Heute sind die Plattformen für Werbetreibende unermesslich groß. Jeder kann erreicht werden, zu jeder Zeit, auf vielen Formaten.

Gesättigter Käufermarkt. Wir haben (fast) alles, wir könnten eigentlich zufrieden sein. Und das wäre ja so gut für unsere Umwelt, für unsere persönliche Ökobilanz. Aber die Produkte, die am Ende vom Fließband der Fabriken plumpsen, müssen doch irgendwo hin. Werbetat bis ultimo steigern statt nachhaltig die Produktionsmengen dem tatsächlichen Bedarf anzupassen.

Wird es wahrgenommen?

In Diskussionen zu diesem Thema stoße ich regelmäßig auf Personen, die sofort sagen, dass es sie nicht betreffen würde. Wahrscheinlich nur so eine Art Schutzreflex. Sie können sich – nach eigener Angabe – vor zu viel Werbung schützen und sehen da keine Interdependenz. „Ich lasse mich da nicht beeinflussen…“. Stimmt´s?

Also. Entweder lebe ich in einer gesellschaftlichen Blase, die ganz anders tickt wie der Rest drumherum. Oder wir sehen alle nicht mehr den Elefanten im Raum. Angesichts der jährlichen zweistelligen Milliardenausgaben für Werbung in Deutschland tippe ich eher auf den Elefanten.

Kurze Definitionsfrage

Wenn – gerade in gesellschaftswissenschaftlichen Kreisen – Menschen den Begriff „Werbung“ hören, so erinnern sie sich an dessen Definition aus kommunikativer Sicht: Werbung ist nur eine „Sonderform“ von Kommunikation.

In diesem Artikel und dem gewünschten Blick geht es jedoch nicht (nur) darum. Werbung ist eine Wirtschaftsbranche. Werbung ist ein Produkt.

In anderen Bereichen hat sich diese Einsicht längst verselbständigt. Ein Beispiel: Wir suchen Mobilität, ein Produkt ist das Auto und die Struktur dahinter ist die Autoindustrie. Mobilität>Auto>Autoindustrie und Werbung>Werbung>Werbetreibender. Wir nutzen hier gegenüber dem Beispiel leider ein und dasselbe Wort für zwei völlig unterschiedliche Bereiche.

Mechanik der Werbung

Wissen wir wirklich, was Werbebotschaften mit uns machen? Wie sie uns erreichen? Und warum nicht für einen Spaziergang im Wald geworben wird? Ein paar entscheidende Bausteine:

Geworben wird nur für wirtschaftlichen Vorteil

Es hört sich banal an, aber Werbung kostet Geld und wird nur gemacht, wenn etwas „Käufliches“ als Werbeprodukt im Mittelpunkt steht. Es gibt so viel Tolles und Interessantes in der Welt, doch wenn es „umsonst“ zu haben ist – und es wohlmöglich keine Resourcen verbraucht – wird es kein Teil der Werbung. Sobald für etwas nicht geworben wird, ist es tot. Mausetot. Zum Beispiel macht es Spaß, durch die Natur zu laufen. Keiner hat einen wirtschaftlichen Nutzen davon. Also wird nicht dafür geworben. Es wird uninteressanter und verkümmert zwischen den Bergen von Konsum(müll). Wir verlagern unbewusst unseren Lebensmittelpunkt vom „Leben“ zum „Kaufen“. Wir „besitzen“ anstatt „zu sein“.

Werbung macht unzufrieden

Wie kann ich Menschen dazu bringen, etwas käuflich zu erwerben? Es geht nur, indem ein Mangel erzeugt wird. Solange ich das beworbene Produkt nicht gekauft habe, soll mir etwas fehlen. Und kurioserweise selbst dann, wenn ich es vorher nie vermisst habe. Ein Beispiel hierfür ist die Kosmetikindustrie und die Drogerieketten. Sie haben erkannt, dass junge männliche Erwachsene kaum Kosmetikprodukte kaufen. Um dieses zu ändern, werden sie bewusst verunsichert. Es wird ihnen durch Werbemaßnahmen suggeriert, dass sie ohne das ein oder andere Produkt nicht attraktiv wären. So schafft man neue Märkte.

Werbung erzeugt künstliche Alterung von Produkten

Es gibt so viele Dinge, die klasse funktionieren. Sie könnten uns glücklich machen. Für den Produktabsatz ist das aber tödlich. Es muss dann unbedingt eine Taktik gefunden werden, dem Verbraucher dieses Gerät, das seinen Dienst tut, künstlich altern zu lassen. Das kann zum Beispiel durch einen nur äusserlich und gering modifizierten Nachfolger geschehen. Um hier ein wenig auf die Fotografie zurück zu kommen, ein Beispiel aus diesem Bereich: Ist ein bessere Eye-Autofocus ein zwingender Grund, einen neuen Kamerabody zu kaufen. Muss ich eine Fuji X-T2 gegen eine X-T3 eintauschen, wenn sie 10% mehr Pixel auflöst? Aber dieser Trick würde allen nicht reichen. Nichts geht ohne Werbung.

Dilemma der Politik

Die Industrie und ihre Verbreitung von Werbebotschaften ist nicht demokratisch legitimiert. Je größer der Einfluss von Werbung wird, desto bedrohlicher wird dieses für unsere Gesellschaft. Die Politik verliert ihre Basis und Legitimation. Das Kleben von albernen Plakaten mit drei-Worte-Sätzen vor den Wahlen wirkt so, als hätte man sich damit resigniert abgefunden. Eine Demonstration der Hilflosigkeit.

Stellt euch mal zur Veranschaulichung unseres Alltags folgendes Bild vor: ihr sitzt an einem Tisch. Links von euch liegt eine bunte, gestylte Werbebroschüre. Lächelnde Testimonals schenken euch scheinbare symphatische Nähe und werben für diesen SUV – natürlich mitten in einer unberührten Natur. Alles grün, die Sonne scheint, ausgelassene Stimmung. Und auf der rechten Seite des Tisches eine Tageszeitung mit einem Einspalter, nüchtern dunkelgrau auf hellgrau gedruckt: Politiker XY sieht „Verbot“, sieht „Strafabgaben“ für unumgänglich, um die Klimaziele zu erreichen. Wie häßlich! Wer soll die bloß wählen? Frust!

…da schaue ich doch lieber wieder auf die linke Tischseite mit den sonnig lächelnden Sympathieträgern.

Gefällt euch das SUV-Beispiel nicht? Wie wäre es mit einem TUI-Prospekt mit Flugreisen und Kreuzfahrten. Und auf der rechten Seite des Tisches das Bild aus der Tageszeitung, wo grimmig reinschauende Politiker eine CO²-Steuer fordern.

Man könnte diese Zusammenstellung auch „Dialog“ nennen. Aber wie geht das zusammen? Links ein sonniges Lächeln und rechts das dazu notwendige einschränkende Verbot. So kann Politik nicht überleben. „Politikverdrossenheit“ – hat das vielleicht auch etwas mit Werbung zu tun?

Ein Lösungsvorschlag

Kann die Werbeindustrie eingeschränkt werden? Ich glaube das kaum und bin sicherlich nicht der einzige. Doch bin ich gleichzeitig optimistisch, dass es Wege geben wird, das Dilemma abzumildern oder zu lösen. Hier ist Kreativität gefragt. Einen möglichen Denkansatz möchte ich hier beispielhaft schildern, um das da-kann-man-nichts-machen klar zurückzuweisen.

Ein möglicher Ansatz: Ich fände es sinnvoller, wenn wir Teile der Energie der Branche „abschöpfen“ und anderen gesellschaftlichen Zielen zur Verfügung stellen.

Schaffung eines Werbepools für Nachhaltigkeit

Stellt euch mal vor, bei jedem Werbeauftrag von Industrie und Handel würden 10% der Summe – wie eine Ökoabgabe – einbehalten. Nicht als Steuer, nicht zum Stopfen anderer Löcher in irgendwelchen Haushalten, sondern für einen großen neu zu schaffenden Werbepool.

Und mit diesem Geld würde dann nachhaltig geworben, für alles, was durch die brutale Werbeindustrie fast schon zu Bruch gegangen ist. Institutionen wie NGOs, lokale Gruppen (THW, freiwillige Feuerwehr), die nie genügend Werbegeld hatten, sich gegen den Konsumismus zu wehren. Endlich wäre das Bundesfamilienministerium wieder auf Augenhöhe mit den einschlägigen Babybrei-Herstellern. Das Bundesministerium für Gesundheit könnte ein paar lässige, einfache Ernährungstipps bringen. Sie könnten sich alle endlich und ergiebig die tollen Werbeagenturen, Influenzer oder Print leisten, um auf sich aufmerksam zu machen. Wohldosiert und durch eine angesagte Werbeagentur gestylt.

Wie könnte alternative Werbung aussehen?

Ich stelle mir gerade vor, wie eine Influencerin auf ihrem Beauty-Channel „in Ohnmacht fällt“, weil sie abends immer ihren selbstangebauten Pfefferminz erntet und sich ihren Tee selber zubereitet (im Auftrag des Gesundheitsministeriums). Oder den bekannten „B-Promi“, der im Keller ein altes Fahrrad findet und zeigt, wie man es mit ein paar kleinen Schritten wieder benutzen kann (mit Ziel einer Verkehrswende). Und täglich damit rumfährt.

Oder: Stellt euch einfach vor, euer lokaler Wasserversorger würde für „trink mehr Leitungswasser“ werben.

Oder: Man schüttelt am Samstag die Beilagen der Lebensmitteldiscounter aus der Zeitung, um die Beilage mit aktuellen kommerzfreien Freizeitvorschlägen und passenden ÖPNV-Angeboten für die Region zu finden.

Oder: ein Jugendlicher bekommt dank Beacon eine Message auf sein Handy, dass am nächsten Weg rechts ab krass viele Bäume stehen. Und das man da unbedingt mal langlaufen muss.

Oder: in einem Video machen sich Leute in einem kleinen Auto oder in der Straßenbahn lustig über die SUV-Fahrer, die in den engen Innenstädten im Stau stehen und kaum Parkplätze finden. Sie sprechen darüber, wie viele Werbeversprechen des Verkäufers glatt gelogen waren.

Oder noch besser: auf Facebook poppt abends die Werbung auf, sein Handy oder Computer endlich abzuschalten und die Zeit ohne zu geniessen.

Jedenfalls würde derzeit niemand für diese Ziele werben. Daran ist nichts zu verdienen. Keine folienverpackte Teebeutelpackung würde zusätzlich verkauft, keine umweltzerstörerischen seltenen Erden für ein e-Bike gefördert, keine PET-Flasche hergestellt.

Motivation statt Verbote

Das ist mein Wunsch! Lasst uns die Werbeindustrie so führen, dass wir uns nicht auf der einen Seite ständig mit neuen Kaufimpulsen zudonnern lassen und auf der anderen Seite mißmutig Verbote akzeptieren müssen.

Nachhaltiges glückliches Leben gelingt nur mit nachhaltigen Werbebotschaften

Das Glück des Einzelnen und der Gesellschaft, und nicht die Produktvermarktung muss wieder mehr im Mittelpunkt des einflussreichsten Netzwerkes der Welt stehen – der Werbeindustrie!

Lasst uns in unserem Europa damit anfangen. Oder zumindest auf Bundesebene.

Kleine dystopische Spitze zum Schluss

„Wir schreiben das Jahr 2030. …ich wache auf und realisiere, dass ich in einem gigantischen Umerziehungslager sitze. Und es wächst ständig und unaufhaltsam weiter. Ohne groß Aufmerksamkeit zu generieren, hatten sich westlich orientierte Regierungen vom Kapitalismus abgewandt. Sie hatten erkannt, dass eine industrielle, auf Herstellung orientierte Wachstums-Philosophie an ihre Grenzen gestoßen war. Ihr Nachfolger, der Konsumismus, versprach da ein deutlich größeres Potential. Die permanente Ankurbelung des Kaufens und Haben-Wollens sind nun die neuen Antriebsmittel des Größenwahns. Viele Menschen versuchen, dieser neuen Ideologie auszuweichen. Manche provozieren sogar, indem sie zum Konsumverzicht aufrufen. Die Industrie und die Regierungen haben jedoch einen Pakt geschlossen, diese Abweichler umzuerziehen und so ihre Macht zu sichern. Alle Menschen werden jetzt permanent mit Werbebotschaften bearbeitet. Große Datenbanken ermöglichen es, die Schwachpunkte der Internierten auszukundschaften. Dank ausgefeilter psychologischer „Kriegsführung“ wähnen sich die selbsternannten Führer des Konsumismus bereits als Sieger des 21. Jahrhunderts. Und wir sitzen nun da, machtlos. Können Augen und Ohren nicht verschliessen, können unsere Werbepflichtgeräte, man nannte sie früher liebevoll Smartphone, Tablet oder PC, nicht mehr abschalten…“

Sorry, muss jetzt Schluss machen. Da kommt gleich der „Fujifilm X Summit LIVE STREAM“ aus Shibuya. Muss mir unbedingt die neue X-Pro3 ansehen. Die soll noch bessere Fotos machen als die „alte“ 😉

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3 Gedanken zu “Warum sieht das denn keiner?”