Was können wir beim Ansehen alter Fotos für die analoge Gegenwartsfotografie mitnehmen?
Umsonst&draussen 1977 mit Kodak Plus X Pan
Im August startet das aktuelle Umsonst&Draussen Festival 2019. Ein Festival mit Wurzeln bis zurück in die 1970er.
Wie sehen unsere Fotos von heute in 40 Jahren aus?
Eine gute Gelegenheit, sich mit der analogen Fotografie damals und aktuell zu befassen. Stellt euch mal vor, ihr würdet die Fotos, die ihr heute macht, nach ein paar Jahrzehnten aus eurem Archiv holen. So wie ich das jetzt und hier tue – über 40 Jahre nach dem „Klick“.
Ein paar Dinge fallen mir auf – und vielleicht könnt ihr auch noch etwas für euch dabei entdecken.
Limitierung als Schule
Fangen wir mit dem wichtigsten an – den Grundlagen. Da dürften wir uns alle einig sein: es lohnt sich zur Erweiterung seiner eigenen fotografischen Möglichkeiten bei den Einstellungen der Kamera genauer hinzuschauen. Bilder exakt zu komponieren, die Einstellungen zu wählen und erst dann auszulösen. Nur 36 Fotos pro Film. Das war damals so und ist heute noch wichtig. Vielleicht sogar wichtiger als früher, denn (theoretisch) ist die Bilderzahl ja digital nicht mehr begrenzt. Man kann lernen, vor dem Auslösen seinem Hirn noch mal eine Extraportion Arbeit zu verschaffen, statt unendlich viele, aber „schlechte“ Bilder zu produzieren.
Limitierung – ein gutes Werkzeug für bessere Bilder.
Großer Nachteil der Filme: es gibt keine EXIF-Dateien. Wenn also Fotos falsch belichtet wurden, dann konnte (und kann man) diesen Fehler nicht „auslesen“, sondern musste anhand von Erfahrung einen möglichen Fehler vermuten.
So enthalten die meisten Bilder dieses Blogs dank digitaler Aufnahme auch eine Info über die gewählte Belichtung – ist übrigens für mich völlig eigennützig. Das habe ich für mich als Routine gemacht, damit ICH mich beim fertigen Bild noch einmal damit auseinandersetze.
Es ist auf jeden Fall ein großer Zugewinn, sich mit analogen Bildern weiter zu entwicklen. Man kann da viel lernen, das ist wahr!
Alt ist nicht Retro
Die Röhrenverstärker glühten damals auf der Bühne, der Sound der zusammengelöteten Gitarren-Amps gehorchten analogen Potentiometern. Ein süßer und für mich damals unbekannter Duft lag über dem gesamten Gelände. Auf dem dritten Festival nach dem Start 1975 wurde überall improvisiert – auch bei der Organisation. Alle waren überrascht über die vielen Besucher. Keiner fühlte sich verantwortlich für Verkehr, Essen&Trinken, sanitäre Anlagen oder Zeltplatz. Von einem Sicherheitskonzept ganz zu schweigen. Es war die Zeit des „einfach machens“ – die wilden 1970er.
Und hier gehört auch der Kodak Plus X Pan hin. In die Freiheit, den Aufbruch, der Suche nach neuen Lebensmodellen. Als „Landei“ mit 12 Jahren war ich noch zu jung, um diese Entwicklung zu begreifen und in diese Subkultur einzutauchen. Ein paar Fotos sind aber zum Glück dann trotzdem enstanden.
Doch wenn ich heute – in einer ganz anderen Welt – die Versuche sehe, mit analogen Bildern ein ähnliches Feeling zu erzeugen, werde ich etwas traurig. Eine Retro-Welle ist nicht Vergangenheit. Retro ist ein eigener, zeitaktueller Trend. Ich weiss, dass es gerade bei den älteren Fotografen/innen unter uns so ein Gefühl von damals erzeugt.
Ich denke, dass jüngere Fotografen das Ganze aber völlig anders wahrnehmen. Ohne einen Ballast der Vergangenheit können sie frisch in die Materie einsteigen.
Wer 2019 mit Film fotografiert, komponiert 2019er-Analog-Fotos.
Auf Dauer immer in bester Qualität
Zugegeben, die Scans auf dieser Seite sind viel zu grob. Beim genauen Hinsehen erkennt man statt feinem Korn Pixel.
Aber was würde ich dafür geben, wenn die Fotos vom Festival 1977 zum Beispiel mit einer Fuji GFX100 oder einer Sony A7 III aufgenommen worden wären. Wenn man beim Betrachten der retro-wirkenden Bilder daran denken könnte, sich die RAWs noch einmal rauszusuchen. Mit den Farben, den Details, den Emotionen in den Gesichtern.
Ich habe daraus gelernt, bei historisch wichtigen Ereignissen lieber das zu dem Zeitpunkt der Aufnahme bestmögliche Datenmaterial zu produzieren. Und dann eine gerade in Mode stehende Exportvariante zu veröffentlichen. Die Daten also runterzubrechen, zu vereinfachen.
Trends kommen und gehen. Da ich mich beruflich mit Mode beschäftige, trau ich mir zu zu wissen, wovon ich spreche. HDR ist ja schon durch, aber vielleicht in ein paar Jahren auch andere Looks, die wir nicht mehr sehen wollen. Vielleicht entschuldigen wir uns in ein paar Jahren beim Betrachten von Fotos mit Instagram-Filtern reumütig mit den Worten „es war halt eine andere Zeit“. Vielleicht ist auch Retro-Analog mal wieder „durch“ – zeitlos, aber doch nicht? Da ist es wichtig, optimales Material für einen zweiten Blick und einen alternativen Export zu haben.
Gern wird ja argumentiert, dass digitale Aufnahmen vielleicht in ein paar Jahrzehnten plötzlich „weg“ sein könnten. Analoge Filme bleiben aber immer und ohne Zusatzgeräte lesbar. Stimmt!
Aber auch nicht so ganz. Farbfilme altern, verändern sich. Und es gibt in der realen Welt genügend Möglichkeiten, seine Fotos zu verlieren. Der vermisste Umzugskarton, der noch an der Gehwegkante stand, ist nur eine von vielen Varianten.
Wer dem Digitalen nicht traut, der sollte seine wichtigsten Fotos einfach ausbelichten – als einzelnen Print oder Fotobuch. Dann liegen die Erinnerungen in zwei verschiedenen Medienformaten und (wenn man alles richtig macht) auch an verschiedenen Standorten.
Wenn ihr also besondere Ereignisse festhaltet – Hochzeiten etc. – dann würde ich euch raten, nicht vollständig auf der analogen Welle zu reiten. Mal abgesehen von der eigenen leidvollen Erfahrung, dass auch bei der Entwicklung der Filme noch einiges schief gehen kann. Digitale Aufnahmen mit einer Kamera mit min. 2 Kartenslots finde ich da immer noch perfekt. Eine digitale Kamera für die besten Daten und vielleicht eine Analoge als haptisch/harmonischer Balsam für die eigene künstlerische Seele.
Erinnerung ist unabhängig von Technik
Analog, digitale Kamera oder Smartphone. Eigentlich spielt es doch keine Rolle. Hauptsache, man kann sich mit Fotos erinnern, es wieder erleben und weiter geben. Den meistzitierten Satz „Die beste Kamera ist die, die man..(ihr wisst schon, wie das weiter geht)“ wage ich hier nicht komplett auszuschreiben. Überstrapaziert. Stimmen tut es aber immer noch.
Wenn ich oben etwas zu kritisch zum analogem Körnchen-Sammeln geschrieben habe, dann sollte das auf jeden Fall keine Aufforderung zum Nichtstun sein. Einfach ausprobieren, experimentieren. Egal womit.
Obwohl…. . Nicht ganz. Wenn ich aktuelle Smartphone-Fotos mit diesen alten vergleiche, dann denke ich, dass ihnen irgendetwas fehlt: eine „Seele“, ein „Gefühl“?
Man kann bei den iPhones und seinen Kollegen vielleicht Parellelen zum Essen ziehen. Eine Tütensuppe oder ein Mikrowellen-Fertiggericht mag noch so lecker aussehen, es kommt an das Selbstgekochte nicht heran. Ich habe mal gehört, dass diese künstliche Natürlichkeit der Fertigprodukte nur zeitbegrenzt akzeptiert wird. Und deshalb immer wieder neue Tüten mit neuen Mischungen diesen unvollständigen Geschmack ausgleichen müssen, während natürliche Grundprodukte lebenslang mit Genuß gegessen werden. „Neue Rezeptur“, „jetzt besser“ ist bei den künstlichen Dingen nicht nur ein Marketingtrick, sondern pure Überlebenstechnik.
Die KI, die die Bilder kleinster Sensoren schönrechnet, wirkt (fast) gut. Aber die Betonung liegt leider auf „fast“. Es bleibt immer etwas künstlich, etwas plastik-fantastic.
Wie die Fotos entstanden
Unser Vlothoer Wesergymnasium besaß ein „Foto-Labor“. Im Keller standen mehrere Räume für Entwicklung und Vergrößerung von analogen Fotos für Schüler ab der 7. Jahrgangsstufe zur Verfügung. Herr Dinglinger, ein engagierter Kunstlehrer, schnitt uns von großen 100m-Filmrollen Stücke für unsere gebrauchten Kleinbildfilm-Kapseln ab. Es musste ja gespart werden.
Gibt es heute eigentlich immer noch diese (Kino)-Filmrollen, um seine Kleinbildfilmgehäuse aufzufüllen?
So wurden uns die Grundtechniken der Belichtung und das Entwickeln der Filme beigebracht. Wir konnten Kontaktabzüge erstellen und Bilder am Vergrößerer ausbelichten. Film Nummer 22, ordentlich in eine Film-Transparentpapiereinlage geschoben, zeigt die Summe der Erfahrungen meines ersten Foto-Jahres. Und mitten drin ein paar Aufnahmen von Umsonst&draussen 1977.
Umsonst&Draussen 2019 steht vor der Tür und so lasst uns nach einem kleinen Blick zurück wieder die Gegenwart feiern. Da spielt die Musik – im wahrsten Sinne des Wortes!
2 Gedanken zu “Analoge Fotos eines 12-jährigen – Umsonst&draussen”
Moin, Jürgen.
Toller Artikel, und ja, ich vermisse den Plus X.
Aber zu diesem Thema haben wir recht unterschiedliche Ansichten, was ja auch nicht schlimm, sondern Vielfalt ist.
Zwei Kartenslots, alle greifbaren Daten, all das ist doch irgendwie Streben nach totaler Sicherheit, nach totaler Kontrolle. Warum eigentlich.
Ja, man kann was falsch machen und Bilder verlieren, aber ich muss gestehen, es passiert extrem selten. Bei keinem Film weiss ich, wie das Ergebnis wird und doch bin ich mir ziemlich sicher, dass das aufgenommene Bild was wird. Selbst, wenn die Batterien mal ausfallen, wegen Kälte oder so.
Vielmehr sehe ich persönlich ja eher die Individualität, wenn ein Bild auch ein Geheimnis mit sich trägt- oder, wenn es so nicht wieder aufgenommen werden kann. Jeder Film hat von Haus aus seinen eigenen Charakter, so kann ich allein mit einer Kamera je nach Situation meinen gewünschten Charakter heraussuchen. Und ich kann auch auf Nummer Sicher gehen, wenn ich einen hohen Belichtungsspielraum wähle.
Wen ich Bilder von früher sehe, dann wirken sie oft durch ihre Unperfektion. Aber auch durch ihre Seele.
Vielmehr sehe ich heute die Gefahr oder eben in 40 Jahren, dass die Aufnahmen in der Masse ersaufen und man in 40 Jahren weniger Bilder aus unserer Zeit sehen wird als eben Bilder jetzt vor 40 Jahren.
Nun bin ich schon lange aus dem Modezirkus raus, die Zeit auf den Messen habe ich geliebt. Aber dennoch schaue ich mir nach wie vor Schaufenster und Werbung an und mir fällt auf, dass sehr viel in Schwarz-Weiss entsteht. Inspiriert aus unseren Zeiten in der Dunkelkammer. Bei mir jedenfalls steht die Anschaffung einer Dunkelkammer wieder fest auf dem Plan. Um wieder ein individuelles Bild zu schaffen. Ein einziges. Ein so nicht reproduzierbares.
Ich habe hier oben ein tolles Zitat gehört und man kann es gut auf die aktuelle Fotografie übertragen: „Das Event ist der Tot des Erlebens“.
Liebe Grüße von den Åland Inseln.
Kai
Ein toller Beitrag, ich hab ihn gern gelesen und angeschaut.