Bequemlichkeit ist die große Schwester der Langeweile
Was ist denn letzte Woche passiert?
Auf zum Bodensee…
Als am Pfingstsonntag die Sonne aufging, saß ich schon im Sattel Richtung Süden und verlies gerade unsere Stadtgrenze. Als „Maximalziel“ peilte ich den Bodensee an. Mit einem Idealverlauf von 700 km und einer Höhenmetersumme, die zur Alpenüberquerung reichen würde. Ist eher so eine Tour für alte Männer, die sich etwas beweisen müssen… . Aber wie gesagt, nur Maximalziel. Wie sich im Laufe der Fahrt herausstellen sollte, wurde eine andere Variante (ohne Schwarzwald) der Favorit.
Kamera und ein paar Objektive waren natürlich dabei. Statt irgendeinen Foto-Reiseverlauf zu zeigen, möchte ich Euch lieber von ein paar Punkten erzählen, die mir auffielen:
Vorbei an Großem und Verborgenem
Starten möchte ich aber trotzdem mit ein paar „ich-war-da-(auch)“-Fotos. Zum Beispiel ging es am Kloster Dalheim vorbei, gehört zum LWL. Wer kennt das eigentlich? Ich nicht.
Und dann Marburg. Viele Höhenmeter hoch durch die Altstadt zum Schloss. Ich bin zwischen Giessen und Kassel so oft daran vorbei gefahren und wollte endlich mal den Blick von oben sehen. Wie war das? Nun ja, sagen wir mal.. ganz nett so.
Aber immer wieder gab es Überraschendes zu sehen. Wie diese aus dem Baumstamm herausgeschnitzte Figur von E. Racevicius. Fand ich sehr beeindruckend. Wer von Euch hat schon vom Skulpturenpfad Dahl bei Paderborn gehört?
Vielleicht sollte ich noch den gesamten Baumstamm zeigen (zu schwarzweiss schreib ich gleich noch etwas):
Und dann gab es noch Skyline-Fotos. Was für ein Kontrast auf dieser Tour. Wie wäre es mit einem Bild von Frankfurt – bevor das nächste Naturfoto kommt?
Am schönsten blieb aber die Natur.
Camping jeglicher Art
Die größte Bandbreite hatten dieses Mal die Campingplätze – alles dabei. Jedes Mal wieder ein Erlebnis, sein kleines Zelt irgendwo aufzubauen. Der große Standard-Platz am Edersee zur Zeit der Pfingst-Party-Treffen. Dazu Musikbeschallung und große Kühlanhänger für die Bierkästen. Alle erdenklichen Trinkspiele, die nüchtern kaum zu ertragen wären.
Es gab die einsame Wiese am Rand des Waldes auf einem Jugendgruppenplatz nördlich von Frankfurt. Die netten Betreuer, die mir erlaubten, an einer äußeren Ecke des Camps mein Zelt aufzubauen.
Und auch den ultraruhigen schönen wir-basteln-noch-an-allem-Camping „Oase der Ruhe“ im Odenwald bei Bensheim – und das mit der überraschenderweise neuesten, besten Dusche.
Hier ein Blick auf meinen normalen Zelt-Aufbau. Ein kleines 2-Personen-Zelt und ein Fahrrad. Schade, dass der T3-Bulli links im Bild leider nicht dazu gehört.
Was sollte ich noch zum Thema Fotografie erwähnen
Ich hatte für mich ein kleines Experiment gestartet. Die Fuji auf eine b&w-Emulation eingestellt und die ganze Woche auf ein schwarzweißes Bild im Sucher geschaut. Ich mag es ja lieber bunt und suche nachher kontrastreiche Bilder für b&w-Bearbeitungen.
Ehrlich konnte ich mich nicht so richtig daran gewöhnen. Da geht mir zu viel Info über den Bildausschnitt und die beteiligten Farben verloren. Ein grünes Zelt auf grüner Wiese vor grünen Bäumen sagt mehr aus als alles graue. Und ein Flamingo in pink ist halt ein pinker Flamingo im nächtlichen Laternenschein.
Als Geräte waren die Fuji X-T2, das XF18mm, 35mm/F1.4 und das XF90mm dabei. Auf das 90ger hätte ich platz- und gewichtstechnisch noch verzichten können.
Man muss auch mal „B“ sagen können!
Ja, und manchmal passiert es anders, als man denkt. Südlich von Heidelberg ging meine Fahrradspur beim Überqueren der Straßenbahnschienen ausnahmsweise mal nicht geradeaus. Nass, spiegelglatt und null Andruck des vorderen Rades. Bei 20+km/h legte ich mich auf der nassen Teerstraße auf die Seite. Zum Glück passierte nichts gravierendes – nur ein paar Prellungen und ich konnte planmäßig weiter radeln.
Doch trotzdem hat sich mein weiterer Weg dadurch geändert. Prellungen – auch wenn sie erträglich sind – nehmen einem schon ein ganzes Stück Selbsteinschätzung und das notwendige sichere Gefühl für seine Grenzen. Und die sollte man immer kennen.
Eigentlich wäre es zum Schluß noch ein Stück durch den Schwarzwald zum Bodensee gegangen. Doch als ich früh morgens am Bahnhof Mühlacker vorbei kam, plante ich mal um – ein Plan „B“ wie „Bahn“. Warum mit ein paar Prellungen weiter Höhenmeter „fressen“? So schaute ich mir einen Teil des Schwarzwaldes lieber aus dem Zugfenster an.
Vielleicht gehört man dann doch noch nicht zum Club der alten Männer, die sich unbedingt beweisen müssen.
Spannendes Bahn-Roulette – Plan „B“
Bahnfahren – insbesondere mit Fahrrad – erfordert ein Unmaß an Resilienz. Ich könnte nun über meine Erfahrungen ein ganzes Buch schreiben. Nein! Aber wenigesten ein paar Stichpunkte für Leute mit ähnlichem Leidensweg. Alle anderen sollten den nächsten Absatz vergessen.
Die spontane Fahrt von Mühlacker nach Markelfingen bei Radolfzell:
# Mühlacker-Markelfingen = 4 Züge = RE + RE + SSB + Seehaas # Mühlacker: Automat ohne Fahrradkartentaste # Reisebüro im Bahnhof kann nur Nahverkehr # DB-App verweist mit Fehler auf Bahn.de # Bahn.de-Besuch per Telefon endet mehrfach mit „unbekannter Fehler“ # Zugbegleiter im RE ist seit 10 Tagen dabei, aber nur auf 5 Regionaltarife geschult. Kann mir nicht weiter helfen # „spezifische Länderregeln“-grrr: Baden-Württemberg: Fahrradmitnahme ab 9 Uhr frei, aber nicht überall # SSB verlangt vorherige Platzreservierung, aber Reservierung für bereits fahrende Züge nicht im DB-Büro möglich # Lösung: Im Bahnhof Horb am Zug gefragt, ob frei ist, dann Büro gebucht und anschliessend eingestiegen # wer versteht es? SSB: reservierungspflichtig, aber gratis versus Seehaas: reservierungsfrei, aber ZUSCHLAGPFLICHTIG!
Bei allem hin und her blieb eines konstant: die Bahnmitarbeiter waren durchweg nett, verständnisvoll und versuchten alles. Manche Gespräche waren sogar richtig witzig im gemeinsamen Blick auf das Unvermögen! Man braucht halt Humor, wenn man bei der Bahn arbeitet und überleben will. Diese Gespräche halfen häufig nicht wie gewünscht weiter, machten aber alle Probleme ein ganzes Stück erträglicher.
Angekommen! Das ist doch bei allen Komplikationen das wichtigste. Besser eine schwierige als keine Bahn. Eingeladen zu einer Tretbootfahrt mit Familie geniesse ich zum Schluss die Aussicht auf den Hafen Konstanz. Danke an den/die Fahrer(in)!
Ach ja…. wäre da nicht noch die geplatzte Rückfahrt von Konstanz nach Bad Oeynhausen… das dicke Ende.
Die Verbindung für die Monate vorher gebuchten und reservierten Züge existierten nicht mehr. Zugausfall wegen Baustelle – typisch Bahn. Am Samstag stellte sich nach stundenlangem Gespräch mit der Bahn heraus, dass es keinen einzigen Fahrradstellplatz am Sonntag mehr Richtung Norden gibt.
Alternative Lösung, die man sich merken sollte, bevor nichts mehr geht: Hermes als Radversandpartner der DB. 50€ innerhalb Deutschlands. Und mit der Hoffnung, dass die Bahn die entstandenen Kosten trägt. Hat gut funktioniert!
Ohne Fahrrad und Zugbindung(!) kam ich nach rekordverdächtigen 8 1/2 Stunden zuhause an – in 6 verschiedenen Zügen.
Alternatives Leben am Bodensee
Das hört sich merkwürdig an. Erst vier Tage „draussen“ – „ausgewildert“- aber durch das Fahrradfahren eben extrem intensiv und naturnah. Und dann trifft man auf so eine völlig durchstrukturierte urbane Gegend wie Konstanz. Irgendwie machte das etwas mit mir. Alles wirkt „gepflegt“ – es wirkt auf mich wie eine Kombination von Konsum und Langeweile. Mit Betonung auf Langeweile… (vielleicht einer der Gründe für viele Deutsche, ihren Urlaub weit weg im Ausland zu verbringen).
An einem Kiosk kaufte ich mir in der Mittagshitze für 3.50€ eine Flasche einfaches Mineralwasser. Ich war froh zu sehen, wie andere in dieser Stadt eine Überlebenstechnik gefunden hatten, um auf Dauer nicht zwischen Bankrott und Verdursten wählen zu müssen:
Eine Fahrradtour mag ein gewisses Risiko beinhalten. Aber mal ehrlich: die Gastronomen in den Touri-Hotspots sind mit ihren Speisen auch ein Anschlag auf die Gesundheit und ein langes glückliches Leben! Und das völlig legal.
Einfach mal machen
Wir werden ständig mit Werbung für fertige Urlaubsarrangements konfrontiert – ob als Print oder online. Mit „all inclusive“ als Klauselkrönung entglittener Selbstbestimmtheit. Wir werden verunsichert, obwohl wir noch nie so sicher, vernetzt, informiert reisen konnten.
Mit ein paar Grundsätzen lassen sich die schönsten Ausflüge und Urlaube selber planen. Wie zum Beispiel eine Reise mit Fahrrad und Zelt. Eine unvollständige Stichwortliste mit ein paar Tipps:
- gute Vorplanung der eigentlichen Route und Alternativen. Gilt für die Route, die Übernachtungen und Verkehrsalternativen.
- Packliste vor Tour zusammenstellen und nach Tour für die nächste optimieren
- Muss ich etwas kochen? Ohne ist alles leichter.
- morgens früh starten (Gegenwind kommt meist erst später auf)
- Lieber Minimalfrühstück bei morgendlicher Abreise und 1-2 Stunden später Bäckerei mit frischem Kaffee und Brötchen als erste Rast.
- nachmittags rechtzeitig Unterkunft/Zeltplatz finden. Zu spät sinkt die Zahl der Übernachtungsalternativen.
- immer genügend Trinken/Essen dabei – incl. Reserve
- je freier und unvollständiger die Tagesplanung, desto wertvoller werden Handy, Navi und Akkupack
- einfach mal jemanden vor Ort fragen, wenn man unsicher ist. Und überlegen, wer im Umfeld wohl die kompetenteste Auskunft geben könnte.
- sich fordern, aber nicht überfordern. Lieber stetig mit den Aufgaben wachsen.
Sobald man mit dem Rad den eigenen Wohnort verlässt, gibt es mehr zu erleben als nach tausenden Kilometern Flug auf dem Handtuch liegend in einem Wellness-Resort. Versprochen!
Letztes Jahr führte mich die Fahrradreise nach Amsterdam, mit einem tollem Abschlusstag in der Metropole.
6 Gedanken zu “Fahrt. Mal. Fahrrad.”
Vielen Dank für diesen Bericht. Wirklich spannend und mit schönen Eindrücken versehen. Angenehm anders im „fotografischen Mainstream-Dschungel“ im Netz.
Liebe Grüße,
Werner
Hallo Werner,
vielen Dank! Die nächsten Themen sind unterwegs. Ich hoffe, es bleibt so abwechslungsreich…
Jürgen
Hallo Jürgen,
spricht mir aus der Seele. Sehr schön gemacht das ganze. Hab acht… ab nächsten August bin ich in Rente 🙂
Da starten wir mal gemeinsam… wenn Du Lust drauf hast!?
Grüße daheim
Melde mich… Gruß Uwe
Hallo Uwe,
Fahrradtouren sind etwas schönes – besonderes die ausgiebigeren. In meiner Jahresplanung steht allerdings unter „Beruf“ weiterhin „selbst“ und „ständig“. Da würde ich Dir ab August schon etwas schöneres und weiteres wünschen! Kannst ja schon mal planen…
Jürgen
Hallo Jürgen,
an unser Drama mit der Bahn konnte ich mich durch deine Beschreibung wieder gut erinnern.
Wir sind etwas unglücklich, verspätet in Stuttgart gestartet. Dann doch bei sehr gutem Wetter über Konstanz nach Basel gefahren. Und konnten unsere Radtour den Rhein entlang bis Straßburg genießen.
Danke für die schönen Bilder und Routen,
Mirjam
Hallo Mirjam,
ich hoffe, dass du dich auch nicht von dem Sonderbaren der DB abschrecken lässt und die nächste nach-Corona-Radtour planst. Die Welt, die wir derzeit in erreichbarer Nähe haben, ist zwar ungewohnt klein – mit Fahrrad wirkt sie aber immer noch reichlich groß und vielfältig. Viel Spaß!
Jürgen